Mentale Gesundheit ist Chefasche

Prof. Dr. Susanne Liebermann ist Professorin für Unternehmensführung und Personalmanagement an der FH Westküste und spricht mit uns über die Chancen von betrieblichem Gesundheitsmanagement. 

WTHS-Onlineredaktion: Vorab ein Definitionsversuch: Was ist mentale Gesundheit? 

Prof. Liebermann: Die WHO definiert die mentale Gesundheit als einen Zustand von Wohlbefinden. Die Brücke zur Arbeitswelt schlägt die WHO ebenfalls: das Wohlbefinden ermöglicht es Individuen, eigene Fähigkeiten zu realisieren und einzubringen, also produktiv arbeiten zu können und einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten. 

WTSH-Onlineredaktion: Mentale Gesundheit ist im Vergleich zur physischen Gesundheit ein Tabuthema. Sehen Sie das auch so? 

Prof. Liebermann: Ja. Das Thema wird stark tabuisiert. 2020 veröffentlichten Wissenschaftler der Uni Leipzig einen Überblick über die Entwicklung der Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu psychischen Erkrankungen. Diese Studie zeigt Verbesserungen, gerade im Hinblick auf den Umgang mit Depressionen. Aber immer noch haben wir Gefühle von Angst und Unbehagen, wenn wir von psychischen Erkrankungen sprechen. Andere Krankheiten wie Schizophrenie sind immer noch stärker stigmatisiert. Mit dem Stigma geht einher, dass wir bei ersten Anzeichen, die wir an uns selbst erkennen, nicht wirklich bereit sind, uns HIlfe zu holen. Es gibt immer noch zu wenig Bewusstsein über Risikofaktoren und Möglichkeiten, unsere mentale Gesundheit zu stärken. Das Gesundheitsbewusstsein, das wir in großen Teilen unserer Gesellschaft entwickelt haben, wirkt sich noch nicht stark auf Präventionsbemühungen im Bereich der psychischen Gesundheit aus. 

WTSH-Onlineredaktion: Was sind die größten Probleme, mit denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseren Zeiten zu kämpfen haben? Und was sind das für Gründe?

Prof. Liebermann: Die Arbeitsverdichtung nimmt zu und wird durch den Fachkräftemangel verstärkt. Wir erleben in vielen Branchen einen Teufelskreis, bei dem Fehlzeiten ansteigen und es für diejenigen, die noch nicht zur Arbeit erscheinen, zu noch mehr Arbeitsverdichtung kommt. Das Thema der Entgrenzung von Arbeitswelt und Privatleben macht den Umgang damit häufig noch schwieriger. 

WTSH-Onlineredaktion: Gibt es Unterschiede in den Branchen? Gibt es Branchen, in denen das Thema stärker präsent ist als in anderen? 

Prof. Liebermann: Man kann die Bedeutung an den Berichten der Gesundheitsklassen erkennen. Der Anteil an Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen hat in den vergangenen zehn Jahren um fast 50 Prozent zugenommen. Davon sind besonders das Gesundheits- und Sozialwesen, die öffentliche Verwaltung und der Bereich Erziehung und Unterricht betroffen. Es kann durchaus sein, dass sich viele Folgen der Corona-Zeit und der damit verbundenen Belastungen erst in den nächsten Jahren zeigen. Die #whatsnext Studie des Instituts für betriebliche Gesundheitsförderung stellt fest, dass die Investitionen in den Bereichen BGM je nach Unternehmensgröße variieren. Auch mit wenig finanziellen Ressourcen kann viel bewegt werden. Aber dazu muss das Thema Gesundheit weit oben auf der Agenda stehen und als Priorität definiert werden. 

WTSH-Onlineredaktion: Welche Rolle spielt Mental Health bei der Gewinnung von Fachkräften, Stichwort Fachkräftemangel?

Prof. Liebermann: Für die Gewinnung und Bindung von Arbeitnehmenden ist der Umgang mit psychischen Belastungen in Organisationen sehr bedeutsam. Viele Arbeitnehmende wählen gezielt Arbeitgeber aus, die sie dabei unterstützen, langfristig beschäftigungsfähig zu bleiben. Bei der Wahl achten Arbeitnehmende zunehmend auf ein gesundes Arbeitsklima im Unternehmen. Umgekehrt kann es sein, dass man den Arbeitgeber schnell wieder verlässt, wenn zu wenig für die eigene Entlastung getan wird. 

WTSH-Onlineredaktion: Welchen realistischen Beitrag können Unternehmen überhaupt leisten? 

Prof. Liebermann: Die Frage ist, wer trägt generell die Verantwortung für Gesundheit? Bei mentaler Gesundheit ist es wie bei allen Facetten der Gesundheit: Wir sind zunächst selbst verantwortlich. Jeder muss sich aktiv um die eigene Gesundheit kümmern. Wir können nicht allein die Arbeit verantwortlich machen. Die Entstehung psychischer Erkrankungen ist multikausal. Über die Lebenszeitspanne wirken verschiedene psychosoziale Faktoren in verschiedenen Lebensbereichen. Aber die Arbeit ist nun einmal ein Bereich, in dem wir sehr viel Zeit verbringen. Hier besteht eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Arbeit kann positive Quelle mentaler Gesundheit sein. Andererseits gibt es gesundheitsgefährdende Faktoren, die der Arbeitgeber identifizieren und beheben sollte, wie beispielsweise hohe Anforderungen bei geringer Kontrolle, erlebte Ungerechtigkeit, soziale Stressoren. Die Verantwortung obliegt hier nicht nur Einzelpersonen. Wenn Führungskräfte, Personalverantwortliche, Geschäftsführung, Arbeitnehmervertretungen, aber auch die gesamte Belegschaft das Thema gemeinsam angehen, kann ein bedeutsamer Beitrag zur Verbesserung der mentalen Gesundheit geleistet werden. 

WTSH-Onlineredaktion: Sind die Effekte von betrieblicher Mental Health messbar? 

Prof. Liebermann: Das ist schwierig, denn das Ergebnis von Prävention ist immer ein Nicht-Ereignis. Je mehr ich investiere, desto weniger Erkrankungen habe ich. Man kann Effekte zunächst an den Fehlzeiten erkennen, am Stresserleben. Es gibt aber auch positive Nebeneffekte wie bessere Motivation, stärkere Bindung, besseres Engagement und nicht zuletzt Produktivitätssteigerungen. Der IGA-Report, der Ergebnisse verschiedener Studien zusammenfasst, berichtet von einem durchschnittlichen Return on Investment von 2,7. Es ist schwer in konreten Zahlen zu fassen, aber es lohnt sich auf jeden Fall. Wichtig ist, dass BGM ganzheitlich angegegangen wird und sich Mitarbeitende einbringen können. Und: Mentale Gesundheit ist Chefsache. 

WTSH-Onlineredaktion: Nachhaltigkeit ist noch nicht so lange präsent und ist erst in den vergangenen Jahren zu einem Kerngeschäftsthema geworden. Sehen Sie das Potenzial, dass mentale Gesundheit ähnlich bedeutsam wird? 

Prof. Liebermann: Nachhaltigkeit enthält bereits den sozialen Aspekt. Teil der sozialen Nachhaltigkeit ist, dass die Gesundheit der Beschäftigten erhalten bleibt. Wie auch bei der Nachhaltigkeit geht es nicht darum eine zuständige Person zu definieren, sondern um eine Gesamtstrategie und Verankerung auf allen Ebenen. Ich bin nicht sicher, ob das in Zukunft als wichtiger erkannt wird, ich wünsche es mir aber. 

WTSH-Onlineredaktion: Was ist der erste Schritt für Unternehmen, wenn es in das Thema mentale Gesundheit investieren möchte? 

Prof. Liebermann: Die meisten Organisationen starten mit Maßnahmen, die schnell erkennbar sind. Ich würde sagen, der erste Schritt sollte sein, Gesundheit klar als Unternehmensziel zu definieren. Es sollte Commitment aufgebaut werden und das Thema sollte einfließen in eine gesunde Führungskultur. Es bringt wenig, in kleinen Schritten vereinzelte Interventionen zu starten, sondern es ist wichtig, sich dem Thema ganzheitlich zu widmen und sich Kooperationspartner zu suchen, wie etwa Gesundheitskassen, die wirklich tolle Unterstützungsmöglichkeiten bieten. 

WTSH-Onlineredaktion: Welche Rolle wird Mental Health Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren spielen? Wo geht der Trend hin? 

Prof. Liebermann: Ich möchte keine eindeutige Prognose abgeben, habe aber große Hoffnungen. Ich hoffe sehr, dass BGM-Beauftragte in vielen Organisationen Chancen ergreifen, das Thema strukturell anzugehen und die Organisationskultur mit zu entwickeln. Ein Best Case Szenario wäre, dass wir die Digitalisierung nutzen, um die Arbeit menschengerechter zu gestalten, so dass es zum Beispiel zu weniger Unterbrechungen kommt und der Workflow besser läuft und wir mehr Aufgaben übernehmen können, die uns intrinsisch motivieren. Ich hoffe, dass wir es schaffen, beim Thema mentale Gesundheit darüber aufzuklären, wie wir uns um uns kümmern und unsere Selbstmanagementkompetenzen stärken können. Auch die Führungskräfte müssen auf ihre Gesundheit achten. Die Verantwortung wird bestenfalls von allen Akteuren getragen und BGM in den Unternehmensleitbildern verankert. Es ist zu befürchten, dass wir durch erneute Krisen sehr viele zusätzliche Belastungen erleben werden. Daher ist es wichtig, dass wir jetzt starten und Bewußtsein schaffen für die Bedeutung der mentalen Gesundheit. 

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