Wie erforscht man etwas, das es noch nicht gibt? 

Wünscht sich nicht jeder ab und zu die Fähigkeit kommende Ereignisse vorherzusehen? Forscherinnen und Forscher, die sich mit Zukunftswissenschaften beschäftigen, haben natürlich keine Glaskugel, die Ihnen die Zukunft vorhersagt. Wir haben mit Ulrich Reinhardt über seine Arbeit, seine PRognosen und die Trends in der Zukunft gesprochen. 

Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt im blauen Sakko lächelt in Kamera

WTSH-Onlineredaktion: Was machen Sie in ihrer Arbeit als Zukunftswissenschaftler und wie erforscht man etwas, das noch gar nicht passiert ist?

Ulrich Reinhardt: Als wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen und Professor für empirische Zukunftsforschung beschäftige ich mich bereits seit Jahren mit dem Verhalten, den Meinungen und den Wünschen, aber auch mit den Sorgen und Ängsten der Bundesbürger, wenn es um das Thema Zukunft geht. Dabei habe ich leider keine Glaskugel, so praktisch diese auch wäre. Vielmehr nutze ich qualitative und quantitative Daten aus der Langzeitforschung und kann so nachweisbare Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft benennen, Ursachen ergründen und auf Basis dieser Erkenntnisse dann wahrscheinliche Folgewirkungen für die Zukunft ableiten. Seit über 40 Jahren schon befragen wir daher die Bundesbürger zu einer Vielzahl von Themen, die uns alle betreffen: zum Beispiel Familie, Arbeit, Freizeit oder Mobilität. Dabei interessiert mich persönlich nicht nur die Frage „Wie werden wir morgen leben?“, sondern besonders „Wie wollen wir morgen leben?“ –  denn egal wie die Welt sich auch wandelt und welche Möglichkeiten wir haben, der Mensch sollte stets im Mittelpunkt stehen.

WTSH-Onlineredaktion: Globale Krisen, Kriege, Klimawandel und Künstliche Intelligenz - Welche Trends werden die Wirtschaft in naher Zukunft am meisten herausfordern?

Ulrich Reinhardt: Zunächst einmal ist nichts so beständig wie der Wandel. Veränderungen sind normal und haben im Laufe der Geschichte stets zu Entwicklungen, Innovationen und Verbesserungen geführt. Stillstand bedeutet dagegen Rückschritt und dieses möchte ja keiner. Wichtig ist, Herausforderungen wie z.B. den demografischen Wandel (Stichwort Fachkräftemangel), den Klimawandel (Stichwort Energiesicherheit, Lebensqualität) oder auch Krisen (Stichwort Homeoffice) nicht einseitig mit Angst und Sorgen zu betrachten, sondern auch als Themen, die eben innovative Lösungen und Veränderungen erfordern. Ähnlich sehe ich die Digitalisierung: Diese sollten wir nutzen, um bestimmte Arbeiten eben nicht mehr ausüben zu müssen, Prozesse zu erleichtern und am Ende vielleicht sogar weniger zu arbeiten. Dass die Digitalisierung mit solchen Ängsten verbunden wird – z.B. Arbeitsplatzverlust, Arbeitslosigkeit – überrascht mich. Vergessen wir nicht 1950 war mehr als jeder fünfte Bürger in der Landwirtschaft beschäftigt, heute sind es rund ein Prozent. Dieses hat ja nicht dazu geführt, dass alle in der Landwirtschaft arbeitslos geworden sind. Nutzen wir daher lieber die Möglichkeiten. 

WTSH-Onlineredaktion: Etwas weiter gedacht als in eher kurzfristigen Trends: Wie sieht das Arbeiten in den kleinen und mittelständischen Unternehmen in 20 Jahren aus und was können wir erwarten? 

Ulrich Reinhardt: Eine große Frage. Für mich ist die Zukunft der Arbeitswelt in jedem Fall weiblicher. Schon heute machen mehr Frauen Abitur und studieren, wobei sie auch noch die besseren Noten haben. Insofern sind Unternehmen gut beraten auf Frauen zu setzen und deren Bedürfnisse und Vorstellungen zu berücksichtigen. Dann werden wir länger arbeiten. Ich muss leider allen Lesern sagen: der Ruhestand ist lange nicht so attraktiv wie gedacht. Die Vorstellung um die Welt zureisen, auszuschlafen und das Leben zu genießen erfüllt sich meisten nur bedingt. Stattdessen fehlen auf einmal Sinn, Spaß, Identifikation, Bestätigung und oft auch das Geld. Ich plädiere daher deutlich langsamer auszuscheiden und sukzessiv die Arbeitszeit zu reduzieren sowie sich gleichzeitig auf den Ruhestand vorzubereiten, anstatt von heute auf morgen daheim zu bleiben. 

Und dann gilt es die Sichtweisen der nachwachsenden Generation in die Planungen mit einzubeziehen. Wie jede Generation zu vor hat auch diese eigenen Vorstellungen, möchte manche Dinge pragmatischer angehen, eigene Schwerpunkte setzen und nicht einfach die Arbeit so gestalten wie die Elterngeneration vor ihnen. Auch dieses ist normal, richtig und wichtig.

Und ein letzter Gedanken: Transparenz wird normal. In Zukunft wird nicht nur der Kunde gläsern sein, sondern auch der Arbeitsplatz und das Unternehmen. Dieses wird ebenfalls vieles verändern. Hierzu gehört dann auch, dass nicht mehr die großen die kleinen Unternehmen verdrängen, sondern die guten, serviceorientierten oder nachhaltig agierenden, die sich nicht verändernden.

WTSH-Onlineredaktion: Welche Entwicklung hat sie zum letzten Mal so richtig überrascht - oder welche Prognose lag in den vergangenen Jahren am meisten daneben.

Ulrich Reinhardt: Corona hat keiner vorhergesehen und kaum ein Unternehmen war hierauf vorbereitet. Nicht erwartet habe ich auch, wie schnell sich Arbeitgeber und Gewerkschaften auf einmal mit dem Thema Homeoffice anfreunden konnten, waren die Vorbehalte vorher auf beiden Seiten doch sehr groß. Geholfen hat hierbei sicherlich die Digitalisierung, die in den letzten Jahren einen deutlichen Schub erfahren durfte. 

Und wenn Sie mich persönlich fragen, bei welcher Prognose ich daneben gelegen habe: ich dachte der HSV spielt schon längst wieder in der ersten Liga ;).

Professor Dr. Ulrich Reinhardt 

Jahrgang 1970, ist Zukunftswissenschaftler und Wissenschaftlicher Leiter der „Stiftung für Zukunftsfragen – eine Initiative von BAT“. Zudem hält er eine Professur für Empirische Zukunftsforschung am Fachbereich Wirtschaft der FH Westküste in Heide und ist adjunct Professor an der University of North Carolina Wilmington (UNCW) in den USA.

Das Interview führte Sabine Konejung

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